Normalwege
Oder was wir dafür halten ...
Ich nenne ihn den «Wältischen Normalweg» vom Schindlergrat hinunter zur Ulmer Hütte. Das Bild zeigt die Abfahrt im Abendlicht. Am linken Bildrand ist die reguläre Piste zu erkennen. Diese nicht markierte Skiroute startet dort, wo die Zäune entlang der Piste am Ausstieg des Schindlergratlifts enden. «Links raus!» kommt das Kommando von Felix - und schon stehen wir über dem Abgrund. Auch Sebastian, 11 Jahre alt, will mit. Der Schnee greift und es gibt kein Eis weit und breit. Also darf er mit. Es ist eine echte Herausforderung: «Kuros1 wird uns beschützen», sagt Sebastian, dann ist er mit seinem Snowboard auch schon unterwegs.
Einige Jahre später stehen wir wieder am Einstieg zu unserem «Normalweg». Diesmal fährt mein Sohn bereits wieder auf Skiern hier herunter - er hat das Snowboardfahren aufgegeben, «weil es zu mühsam sei», wie er sagt. Diesmal fängt eine digitale Spiegelreflex die Szene ein. Dramatischer als damals empfindet keiner von uns diese steile Buckelpiste, über die ein Arbeitskollege, der einmal dabei war, als ich in den Pfeiler einfuhr, später erzählen wird: «Wo der mit dem Snowboard runterfährt nehmen andere einen Fallschirm».
Es ist die Sicht auf die Dinge, die Legenden entstehen lässt. Man kann die Piste so oder so betrachten. Die Steigung ist immer dieselbe, aber auf dem Bild, aus der Abfahrt heraus fotografiert, wirken die Buckel flach und die Skifahrer fast ein wenig gelangweilt. Dabei ist das Foto im steileren oberen Drittel der Skiroute entstanden.
Wir fahren hier in ein Revier hinein, das man nur mit einem Blick auf die Lawinenwarnungen betritt. Allerdings überlassen die Verantwortlichen hier niemanden sich selbst. Wenn die Abfahrt nach Neuschnee zu gefährlich erscheint, wird sie gesperrt, was Lebensmüde jedoch kaum davon abhält, sie zu befahren. Ich nenne diese Route auch deshalb den «Normalweg», weil es einen noch aufregenderen Weg gibt.
Noch heißer (weil enger und etwas steiler) wird es, wenn man die Skier und das Snowboard abschnallt um die Bahnstation herum fährt. Früher musste man unter der Bergstation des Lifts hindurchkriechen. Das ist wörtlich zu nehmen, da der alte Schindlergratlift halb auf Felsen und halb auf einer Stahlkonstruktion errichtet war. Die ganz hart gesottenen Skifahrer machten sich klein und klettern zwischen den Stahlträgern hindurch wieder ins Freie.
Viele Jahre hatte man den Weg unter der Liftstation mit einem Großaufgebot an Netzen versperrt. 2022 stelle ich überrascht fest, dass die Netze verschwunden sind und der Zugang, unterhalb der Station querend, frei ist. Immer im Angesicht der Ulmer Hütte geht es von dort durch eine steile Rinne hinunter ins Tal. Darf man zugeben, selbst schon mal hier gefahren zu sein?
1 Ich habe Kuros kurzerhand zum Gott der Pisten ausgerufen. Man huldigt ihm, indem man das gleichnamige Eau de Toilette aufträgt, das mich seit dem ersten Tag auf Skiern begleitet. Ich finde, es riecht so draufgängerisch und männlich. Mehr ...