100 Pis­ten­ki­lo­me­ter am Tag!

Wie soll das ge­hen? Wo soll man das fah­ren?

Di­ver­se Bei­trä­ge in ver­schie­de­nen Fo­ren ver­an­las­sen mich da­zu, ei­ni­ge Sät­ze zu der Fra­ge zu schrei­ben, ob man mit Ski­ern an ei­nem Tag tat­säch­lich 100 Pis­ten­ki­lo­me­ter fah­ren kann und ob das noch Spaß ma­chen kann. Ich selbst bin im Ja­nu­ar 2013 in den 3 Vallées an sechs Ta­gen 72 km im Durch­schnitt ge­fah­ren, 84 in der Spit­ze (14000 Hö­hen­me­ter), mein per­sön­li­cher Re­kord bis zum April 2017. In je­nem Jahr schrau­be ich die Pis­ten­ki­lo­me­ter (Pkm) er­staun­lich lo­cker und ent­spannt auf 120 hoch und stei­ge­re den Wert im März 2021, der «Co­ro­na­sai­son», schließ­lich auf 140.

Die Fahrt, von der ich hier be­rich­ten will, hat sich im April 2009 zu­ge­tra­gen und be­ginnt so:

«Zer­matt oh­ne Stock­horn - das geht gar nicht!», ant­wor­te­te mir mein Sohn da­mals mit ge­spiel­ter Em­pö­rung, als er mir den HOLUX GPSport 245 in die Hand drück­te, da­mit ich für ihn den Tag aus­wer­ten mö­ge. «Ich bin ja auch zwei Mal die Mit­tel­ritz ge­fah­ren.» - Wa­rum er die­se schwe­ren und re­la­tiv kur­zen Ski­rou­ten fah­ren muss­te wo er doch auf Pis­ten­ki­lo­me­ter aus war, ist mir noch heu­te ein Rät­sel, und so ent­geg­ne­te ich ihm da­mals ein we­nig ent­setzt: «Du hast da­mit Dein Ziel ge­fähr­det, an ei­nem ein­zi­gen Tag 100 Pis­ten­ki­lo­me­ter zu fah­ren.»

Zermatt Stockhorn Ich warf das No­te­book an und star­te­te GNavigia. Das Pro­gramm er­laubt es mir, die Roh­mes­sun­gen der Tracks von Feh­lern zu be­frei­en, so­dass die An­ga­ben auch zu­tref­fen. Da­zu kann ich die Ab­fahr­ten so un­ter ei­nem Ob­jekt zu­sam­men­fas­sen, dass die­se zu­sam­men­ge­rech­net wer­den. An­ders als Ski­line, die die Pis­ten­ki­lo­me­ter nach den Ein­stiegs­punk­ten und den An­ga­ben der Berg­bah­nen zur Pis­ten­län­ge er­mit­teln, ist das Ver­fah­ren mit­tels GPS auch nicht aus­zu­trick­sen1.

Noch vor Mit­ter­nacht war die­ser denk­wür­di­ge Tag aus­ge­wer­tet2. Knapp 18000 Hö­hen­me­ter und 110 Ki­lo­me­ter rei­ne Fahr­stre­cke, et­wa das Drei­fa­che ei­nes nor­ma­len Ski­tags, ka­men am En­de zu­sam­men und der Lift- und Pis­ten­plan war zu­gleich auf al­len mar­kant schwe­ren Po­si­tio­nen ab­ge­fah­ren wor­den, in der Spit­ze mor­gens am Furgg­sat­tel mit 104 km/h. We­gen der bei gu­tem Wet­ter re­gel­mä­ßig auf­tre­ten­den War­te­zei­ten an der Luft­seil­bahn zum Klein Mat­ter­horn fehl­te am En­de nur die Ab­fahrt von dort. Ein Kom­pli­ment an ei­nen en­ga­gier­ten und da­bei doch im­mer si­che­ren Ski­fah­rer, an schnel­le und fle­xi­ble Head XRC 1200i und an ein ein­zig­ar­ti­ges, wirk­lich her­aus­ra­gen­des Ski­ge­biet, das das zu­lässt.

Wa­rum wird in Fo­ren ei­ne Fra­ge so häu­fig ge­stellt: «Wel­che Skier könnt ihr mir emp­feh­len, wenn ich so et­was ver­su­chen will?» Ich bin ziem­lich si­cher, dass es prak­tisch über­haupt nicht auf den Ski an­kommt, zu­min­dest nicht, wenn er prin­zi­pi­ell für Ge­schwin­dig­kei­ten bis 100 km/h aus­ge­legt ist. Und das sind die meis­ten Ski in der Klas­se 500 Euro auf­wärts, die als All­roun­der ge­kenn­zeich­net sind. 10% der Stre­cke wur­den auf Bu­ckel­pis­ten und Ski­rou­ten ge­fah­ren. Da kann nie­mand al­len Erns­tes be­haup­ten, dass Renn­ski Pf­licht sei­en. Viel wich­ti­ger ist, dass man sich auf sei­nen Ski­ern wohl­fühlt.

Tat­säch­lich muss man bei ei­ner sol­chen Fahrt (mitt­ler­wei­le steht sein per­sön­li­cher Re­kord bei 166 Pkm) eher nach der Kon­di­ti­on fra­gen, nach der Re­gel­mä­ßig­keit mit der man fährt und nach der Fä­hig­keit, auch nach sechs Stun­den die Skier si­cher durch schwe­rer wer­den­den Schnee zu steu­ern. Und nach dem Ski­ge­biet, wo das geht. Nicht um­sonst ge­ben schwei­zer Rei­se­ver­an­stal­ter bei Ta­ges­fahr­ten 5000-6000 Hö­hen­me­ter als Ma­xi­mum für ei­nen Ski­tag an. Da­rin sind Kon­di­ti­on, War­te­zei­ten an den Lif­ten, Pau­sen mit Hüt­ten­hock so­wie Pis­ten- und Schnee­ver­hält­nis­se ent­hal­ten. Wenn ich 6000 Hö­hen­me­ter fah­re, ha­be ich et­wa 35-40 Pis­ten­ki­lo­me­ter hin­ter mir, bei 72 km sind es knapp 12000 Hö­hen­me­ter. Der GPS-Emp­fän­ger ist das Maß der Din­ge, al­les an­de­re ist nur ei­ne gu­te Nä­he­rung.

Ei­ne pfif­fi­ge Ge­stalt hat ein­mal aus­ge­rech­net, dass man sein Ziel an ei­nem 100-km-Tag in 2,5 Stun­den er­reicht, wenn man im Schnitt 40 km/h fährt. Tat­säch­lich fin­det sich un­ter den GPS-Daten ei­ne Stre­cke, die über 6 km hin­weg ei­nen sol­chen Durch­schnitt auf­weist, aber schon am Nach­mit­tag sinkt der Schnitt auf die­ser Ab­fahrt auf 36 km/h, der Schnee wird wei­cher. Daraus er­gibt sich, dass man min­des­tens 3 Stun­den un­ter­wegs ist und da­her nur knapp über 5 Stun­den für Lift­fahr­ten und Pau­sen blei­ben. Wenn die Be­triebs­zei­ten der Bah­nen zwi­schen 9:00 und 17:00 Uhr lie­gen, soll­te das aus­rei­chen. Wenn man so schnell fah­ren kann.

Schnel­les Fah­ren hat schon man­chen Halb­kön­ner in schwe­re Un­fäl­le ver­wi­ckelt. Da­her gel­ten al­le An­ga­ben hier für Leu­te, die ih­re Ski auch bei sehr ho­hen Ge­schwind­kei­ten im Griff ha­ben. An­de­rer­seits kann man et­was da­ge­gen tun, dass Vor­aus­fah­ren­de ner­ven. Hier ha­ben sich Luft­seil­bah­nen be­währt, die Ski­fah­rer stoß­wei­se auf die Pis­ten ent­las­sen. Man ach­tet dar­auf, dass man so steht, dass man sehr schnell aus­stei­gen kann, be­eilt sich beim Aus­stieg, wirft die Skier in den Schnee, schnallt an und sieht zu, dass man vor der Meu­te un­ter­wegs ist. Dann hat man auch die be­rühm­ten frei­en Pis­ten, die bei so ei­nem Ver­such wich­tig sind. Die Er­fah­rung zeigt aber auch, dass man am En­de auf die­je­ni­gen trifft, die in der Bahn zu­vor wa­ren.

Luft­seil­bah­nen ha­ben sich noch in an­de­rer Hin­sicht be­währt. Hat man kei­ne War­te­zei­ten, über­win­den sie 1000 Hö­hen­me­ter in we­ni­gen Mi­nu­ten. Da Luft­seil­bah­nen meist nur dort ein­ge­setzt wer­den, wo die Ge­län­de­form kei­ne Um­lauf­gon­deln zu­lässt, folgt die Pis­te nur sel­ten un­mit­tel­bar dem Lift. Daraus er­gibt sich zwangs­läu­fig ein güns­ti­ges Ver­hält­nis zwi­schen Lift- und Ab­fahrt­län­ge. Aber Luft­seil­bah­nen al­lein tun es auch nicht. Pau­sen kann man an ei­nem 100-km-Tag nur in den Be­för­de­rungs­an­la­gen ma­chen. Auch es­sen und trin­ken muss man hier. Da­her ist ein Ge­biet mit ei­ni­gen Gon­deln hilf­reich, wo man sit­zen kann. In Zer­matt ist die Gor­ner­grat­bahn zwi­schen Rif­fel­alp und End­sta­ti­on ein gu­ter Tipp. Zu­gleich kann man dort die Ge­biets­sei­te wech­seln, wenn man vom Rot­horn kommt.

Wer auf Luft­seil­bah­nen ver­zich­ten muss, der hat es den­noch nicht schwer, das Pen­sum ab­zu­fah­ren. Zwar be­för­dern Luft­seil­bah­nen Ski­fah­rer mit 36-40 km/h, wäh­rend Um­lauf­gon­deln nur 18-20 km/h er­rei­chen, ge­kup­pel­te Ses­sel­lif­te 16 km/h, Schlepp­lif­te 11-12 km/h und fi­xier­te Ses­sel 7 km/h. Al­ler­dings reicht es, ei­ne ein­zi­ge Gon­del zu ver­pas­sen, um aus dem Ren­nen um Platz 1 ge­wor­fen zu wer­den. So ist es nicht wei­ter ver­wun­der­lich, dass in Zer­matt die Hö­hen­me­ter­re­kor­de heu­te auf der Rif­fel­berg­bahn ge­fah­ren wer­den, ei­ner 8er Um­lauf­gon­del.

Dass das Wet­ter per­fekt sein muss, steht au­ßer Fra­ge. Bei schlech­ter Sicht ver­bie­tet sich ein Fah­ren an der ei­ge­nen Leis­tungs­gren­ze. Aber auch bei gu­ter Sicht soll­te man sich dar­über im kla­ren sein, dass Tem­po 50 be­deu­tet, dass man sich an­de­ren Ski­fah­rern mit Tem­po 30 nä­hert! Freie Pis­ten un­ter­stüt­zen das Un­ter­neh­men - und da ist Zer­matt un­über­trof­fen. We­gen der schlech­ten Er­reich­bar­keit ist das Ge­biet prak­tisch frei von Ta­ge­stou­ris­ten. Wer die Chan­ce hat, an ei­nem Sams­tag zu fah­ren, hat kei­ne An­fän­ger vor sich, al­len­falls Ein­hei­mi­sche mit ent­spre­chen­dem Fahr­ver­mö­gen. Schritt­ma­cher, so­zu­sa­gen.

Zu­letzt noch zum Fahr­spaß: Das sinn­lo­ses­te Ar­gu­ment ge­gen ei­ne Re­kord­fahrt ist, dass man die Land­schaft nicht ge­nie­ßen kön­ne! Es ist kom­plett aus­ge­schlos­sen, in ei­nem Ge­biet ei­ne Re­kord­fahrt zu ver­su­chen, das man nicht gut kennt. Denn wenn man schon flott un­ter­wegs ist, soll­te man die Pis­ten al­le zu­vor mehr­mals ge­fah­ren sein. Dies trägt in er­heb­li­chem Ma­ße zur Si­cher­heit bei. Wer vie­le Jah­re nach Zer­matt kommt, wird ei­nen Tag üb­rig ha­ben, an dem er das Mat­ter­horn nur aus den Au­gen­win­keln her­aus an sich vor­bei­zie­hen sieht. Und glas­klar zum Schluss: Es ist das Ar­gu­ment der Neid­ham­mel schlecht­hin. Denn nichts (au­ßer gu­tem Sex) be­rei­tet mehr Ge­nuss als der Blick auf ei­nen GPS-Emp­fän­ger, der brut­to knapp 220 km zeigt!

«Zer­matt oh­ne Stock­horn - das geht gar nicht! Ich bin ja auch zwei Mal die Mit­tel­ritz ge­fah­ren.», si­gna­li­siert aber auch, dass der Pro­tago­nist die­ser Ge­schich­te noch Op­ti­mie­rungs­po­ten­zi­al hin­sicht­lich der Stre­cken­füh­rung ge­habt hät­te. Das Bild oben zeigt die Ver­hält­nis­se am Stock­horn und auch die Mit­tel­ritz ist von glei­chem Ka­li­ber, wenn auch ein klein we­nig we­ni­ger steil. Wer sol­che Ski­rou­ten und Bu­ckel­pis­ten, zu­sam­men im­mer­hin knapp 10 Ki­lo­me­ter, an solch ei­nem Tag fährt, wird beim Fahr­spaß nicht zu kurz ge­kom­men sein. Der Satz zeigt aber auch, das da ei­ner un­ter­wegs war, der oh­ne je­de Ver­bis­sen­heit sein Ziel ver­folgt. Das ist wich­tig, um brenz­li­ge Si­tua­tio­nen sou­ve­rän zu er­ken­nen und ih­nen von vor­ne her­ein aus dem Weg zu ge­hen. «Voir, c'est prévoir!» ist ein groß­ar­ti­ger Satz, den ich ein­mal an der Au­to­bahn im Wal­lis sah auf der An­fahrt nach Zer­matt und der nicht nur für das Au­to fah­ren gilt. Wa­rum wer­den Ski­leh­rer so sel­ten in Un­fäl­le ver­wi­ckelt?

Den­ken Sie an all das, wenn Sie ver­su­chen, 100 Pis­ten­ki­lo­me­ter am Tag zu fah­ren. Ich wün­sche Ih­nen das rech­te Au­gen­maß und: «Viel Er­folg! Ja, das geht.»


1 Ski­line lie­fert recht prä­zi­se An­ga­ben zu den Pis­ten­ki­lo­me­tern, da­von konn­te ich mich in Saal­bach-Hin­ter­glemm über­zeu­gen. Die Über­ein­stim­mun­gen wa­ren so gut, dass man die 2,4 Ki­lo­me­ter, um die die Jau­sern-Abfahrt zu lang an­ge­ge­ben wird, er­ken­nen konn­te. Aber: Wenn der Be­trei­ber der Berg­bah­nen an­de­res im Sinn hat, kann Ski­line nichts da­für, wenn astro­no­mi­sche Zah­len auf­tre­ten.
2 Heu­te geht die Aus­wer­tung ei­nes Ta­ges deut­lich schnel­ler von stat­ten. Ich ha­be GNavigia ei­ne Aus­wer­te­funk­ti­on für Ski­ge­bie­te ver­passt, die den Be­nut­zer von Lift­sta­ti­on zu Lift­sta­ti­on führt. Mit ein we­nig Übung be­nö­tigt man nur noch ei­ne Stun­de für ei­nen Ta­ges­track.